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3. Die Anfänge der Arbeiterbewegung

Am Weg zum Hainfelder Einigungsparteitag

Die ersten Organisationsformen der österreichischen Arbeiter waren sogenannte Arbeiterbildungsvereine. Eine andere Form des politischen Zusammenschlusses war noch nicht erlaubt. In diesen Arbeiterbildungsvereinen, die am Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Österreich entstanden, wurden die neuen, aus Deutschland kommenden Ideen der „Selbsthilfe" und der „Staatshilfe" diskutiert. Die Ideen der Selbsthilfe, entwickelt von Hermann Schulze-Delitzsch, sahen vor, die Arbeiter vom selbstständigen politischen und gewerkschaftlichen Kampf abzuhalten und sie als Flügel dem liberalen Bürgertum anzugliedern. Man war überzeugt, dass alle sozialen Missstände auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gelöst werden könnten. Man sah die Gründung von Konsum-, Kredit-, Rohstoff- und Produktivgenossenschaften vor, eifriges Sparen sollte die Arbeiter schließlich zu „Miniaturkapitalisten" machen.

Die Staatshilfe baute auf der erwähnten Theorie von Ferdinand Lassalle auf. Drei Ideen der Staatshilfe blieben schließlich in Österreich dominierend. Der zentrale Punkt des politischen Kampfes der Arbeiterbildungsvereine war der Kampf um das Koalitionsrecht. Am 13. Dezember 1869, am Eröffnungstag des Reichsrates, fand auf dem Paradeplatz vor dem Parlament die erste Massendemonstration der österreichischen Arbeiterbewegung statt. 20.000 Wiener Arbeiter entsandten eine zehnköpfige Delegation ins Parlament um ihre Forderung nach dem Koalitionsrecht Gehör zu verschaffen. Schon am nächsten Tag brachte der Justizminister einen Gesetzesentwurf ein, der im April 1870 die kaiserliche Sanktion erhielt. Es war nunmehr erlaubt, sich wegen gemeinsamer Einstellung der Arbeit zu verabreden, zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen mit Streiks zu drohen und Vereinbarungen zur Unterstützung der Streikenden zu treffen. Diesem ersten Erfolg der österreichischen Arbeiterbewegung folgte aber sogleich ein Tiefschlag. Die gesamte Führung der Bewegung, die 1869 am Eisenacher Kongress der deutschen Sozialdemokratie teilgenommen hatte, wurde im Sommer 1870 in einem Hochverratsprozess angeklagt. Die junge Arbeiterbewegung war damit führerlos geworden.

Neben diesen ersten Organisationsversuchen, die als Vorläufer der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften zu betrachten sind, entwickelten sich damals auch erste Organisationsformen der späteren christlichen Arbeiterbewegung. Vor allem Gesellen der kleineren, eher dem Handwerk und Gewerbe als der Industrie zuzuordnenden Betriebe gründeten Vereine, die unter anderem der Traditionslinie von Adolph Kolping folgten.

Die frühen Siebzigerjahre brachten Österreich einen rasanten Wirtschaftsaufschwung, der auch das Spekulantentum unerhört förderte. In diesen „Gründerjahren" entstanden vor allem zahlreiche Bauunternehmen, die nicht immer am Bauwesen, sondern eher an der Grundstücksspekulation interessiert waren. Auf das Fieber der kapitalistischen Gründerjahre folgte die erste wirklich weltweite Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Am 9. Mai 1873, dem sogenannten ,,Schwarzen Freitag", kam es zur längst erwarteten Katastrophe. Der Börsenkrach löste eine Kettenreaktion aus, die die Wirtschaft der Monarchie und aller anderen europäischen Länder in eine tiefe Krise stürzte.

In der Folge jagte ein Krach den anderen. Papiere, die zuvor noch hoch dotierten, waren über Nacht fast wertlos geworden. So waren etwa die mit 100 Gulden eingezahlten Aktien der lndustrialbank am 28. Mai nur noch 50 Kreuzer wert. Die akute Krise dauerte etwa sieben Jahre und ging dann in eine Depression über, die bis in die Mitte der neunziger Jahre anhielt. Die weitgehende Beteiligung der Kleinbürger am Treiben an der Börse hatte den Ruin vieler Klein- und Mittelbetriebe zur Folge, was den Konzentrationsprozess des Kapitals verstärkte.

Die Überwindung der Depression hing in erster Linie von den Maßnahmen des Staates ab. Da die Krise gleichzeitig eine Niederlage des liberalistischen Gedankengutes war, war man nunmehr staatlichen Lenkungsmaßnahmen in der Wirtschaft nicht mehr abgeneigt. Die bedeutendste Aktion in Österreich war das Gesetz von 1877, das den Staat ermächtigte, private Bahnlinien anzukaufen. Nach 1881 setzte eine planvolle Verstaatlichung des Eisenbahnwesens ein, deren erste Etappe 1893 endete.

Die langwierige Depression mit sinkenden Preisen, Arbeitsreduzierungen, Lebensmittelverknappungen, Massenentlassungen, ,,eingefrorenen" Löhnen usw. traf die Industriearbeiterschaft besonders hart. Die Preisentwicklung kam den Arbeitern zwar zugute, doch wurde dieser Vorteil durch die soziale Unsicherheit weit übertroffen. 1874 gab es in Wien 20.000 Arbeitslose. Am Ende der großen Depression hatte der Kapitalismus ein neues Stadium erreicht. Aus dem Konkurrenzkapitalismus ging der Monopolkapitalismus hervor, da nur die stärksten Unternehmen die Krise überlebten und die Produktionsmittel der kleinen Betriebe aufkaufen konnten.

Diese Krise zeigte auch die Schwächen des Liberalismus deutlich auf. Eine Wirtschaft, die nur der Reglementierung durch den Markt unterworfen war, hatte ihr Scheitern dokumentiert. Die Abwendung vom Liberalismus schuf schließlich die ideologische Basis für die Schaffung antiliberaler Massenparteien (Sozialdemokratie, Christlichsoziale und Nationale Parteien).

Zeiten von Wirtschaftskrisen sind meist auch Zeiten von organisatorischen und ideologischen Schwächen der Arbeiterbewegung. Die große Depression ist ein klarer Beweis für diese Behauptung. Sie hatte die Richtigkeit der Marxschen Analysen bestätigt. Schon im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 sprach Marx von Wirtschaftskrisen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft infrage stellten. Die Arbeiterschaft wurde dadurch für die Ideen des Marxismus empfänglicher.

In die führungslose österreichische Arbeiterbewegung konnte jedoch nur eine Form des "Vulgärmarxismus", noch dazu entstellt durch andere Theorien, eindringen. Es bildeten sich zwei Fraktionen heraus, an deren Spitze Heinrich Oberwinder und Andreas Scheu standen. Oberwinder, eher ein bürgerlicher Demokrat als Sozialist, wollte in der Arbeiterbewegung nur eine Teilfraktion der liberalen Bewegung sehen und verband seine Propaganda mit großdeutschem Vokabular. Scheu hingegen vertrat einen kompromisslosen, aber zu engen proletarischen Klassenstandpunkt, der auf scharfe Opposition zum Bürgertum hinzielte.

Heinrich Oberwinder und Andreas Scheu - Repräsentanten der unterschiedlichen Strömungen

Die Krise von 1873 schien Scheu recht zu geben, so dass am 5. April 1874 im österreichisch-ungarischen Grenzort Neudörfl im heutigen Burgenland ein Kongress der Arbeitervereine stattfinden konnte, der als erster Einigungskongress in die Geschichte eingegangen ist. Die Oberwinder-Fraktion blieb diesem Kongress fern. Man nahm ein Programm an, das sich am Programm der deutschen Sozialdemokratie von Eisenach orientierte.

Trotz dieses klaren Programms, das durchaus als marxistisch bezeichnet werden kann, ließ die Wirtschaftskrise eine endgültige ideologische Klärung noch nicht zu. Das Elend machte Teile der Arbeiterklasse für die Ideen der Anarchisten empfänglich. Als in Deutschland im Jahre 1878 Bismarck mit dem Sozialistengesetz die Sozialdemokratie in die Illegalität zwang, wirkte sich das auf die österreichische Arbeiterbewegung, die sich stark am deutschen Vorbild orientierte, sehr negativ aus. So kam es schließlich zur Spaltung der österreichischen Arbeiterbewegung in eine gemäßigte und eine radikale Fraktion.

Die Radikalen orientierten sich an der von Johann Most herausgegebenen Zeitung „Freiheit" und glaubten an die Möglichkeit einer sofortigen Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch einen revolutionären Aufstand. Sie waren Gegner jeglicher sozialer Reform und Feinde der legalen Betätigung. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht stieß auf ihren Widerstand. 

Die Gemäßigten waren ,,Ökonomisten". Sie hatten eine mechanistische Auffassung, das heißt, sie waren der Ansicht, dass der Kapitalismus erst eine gewisse ökonomische Entwicklung durchlaufen müsse, ehe man den Sozialismus erreichen könne. Sie beschränkten sich gänzlich auf das Problem der Erkämpfung sozialer Reformen und erklärten sich für ein friedliches Vorgehen unter Einhaltung der bestehenden Gesetze.

Die Radikalen waren bereit, auch zu terroristischen Kampfmitteln - wie zur Verübung von Attentaten - zu greifen. Johann Most hatte ihnen mit seiner „Propaganda der Tat" den Weg gewiesen. Dies führte zu polizeilicher Verfolgung und zur Verhängung des Ausnahmezustandes über Wien und Umgebung im Jahre 1884. Dass es zu keinem Sozialistengesetz wie in Deutschland kam, verdankte die Bewegung dem Einsatz von Engelbert Pernerstorfer, einem Reichsratsabgeordneten, der der Arbeiterbewegung nahestand.

Der Kampf zwischen den Gemäßigten und Radikalen wurde mit großem Einsatz und allen Mitteln geführt, die bis zur Denunziation der gegnerischen Fraktion reichten. Beide Gruppen hatten jede Möglichkeit, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu erzielen, bereits verloren. Aber nicht nur ideologisch, sondern auch organisatorisch war die Zeit der Depression ein finsteres Kapitel in der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Der Fraktionsstreit hemmte jede konstruktive Arbeit und die Mitgliederzahlen sanken ständig. Erst im Jahre 1886 war der Wendepunkt erreicht. Dr. Viktor Adler, die zentrale Persönlichkeit der Österreichischen Arbeiterbewegung, begann in diesem Jahre seine eigene Zeitung, die „Gleichheit" herauszugeben. Viktor Adler, der aus einer reichen jüdischen Familie stammte, hatte als Armenarzt unter den Laaerberger Ziegelarbeitern das Elend der Arbeiterklasse kennengelernt. Seine Bekanntschaft mit Friedrich Engels ermöglichte es ihm, die Verhältnisse zu durchschauen und ein klares marxistisches Konzept zur Beseitigung der Missstände zu entwickeln.

Seine Zeitung, die „Gleichheit", nahm von Anfang an eine Mittelstellung zwischen den Fraktionen ein und erwarb sich langsam das Vertrauen beider Richtungen. In langen, mühseligen Verhandlungen gelang es Viktor Adler, mit diplomatischem Geschick und Beharrlichkeit, eine gemeinsame Gesprächsbasis für beide Fraktionen zu erarbeiten. Damit war die Zeit für die Gründung einer politischen Partei endgültig herangereift und man begann, ihr Programm zu diskutieren

Am 5. und 6. April 1874 fand im burgenländischen Neudörfl (Bezirk Mattersburg) der ursprüngliche Gründungstag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Österreichs) statt. Interne Streitigkeiten zwischen dem politisch gemäßigten Flügel um Heinrich Oberwinder und den Radikalen um Andreas Scheu lähmten jedoch die Entwicklung der Partei. Erst 1888 konnte Viktor Adler die Richtungsstreitigkeiten beenden. Mit dem Hainfelder Programm gab sich die Partei auf der Basis von Arbeiterbildungsvereinen und gewerkschaftlichen Fachvereinen einen gemäßigten Kurs, bei dem Karl Marxens Kommunistisches Manifest nicht als Richtlinie, sondern als Zukunftsvision präsent war. Die eigentliche Leitung der Partei lag in Händen der soeben gegründeten Arbeiter-Zeitung. Erst im Jahr 1892 legte der Parteitag eine neunköpfige Parteivertretung und eine Kontrollkommission fest.

Am 31. Dezember 1888 und am 1. Jänner 1889 fand in Hainfeld in Niederösterreich der Einigungsparteitag statt, der wieder eine einheitliche und revolutionäre österreichische Arbeiterbewegung schuf. Das Hainfelder Programm, ein Kompromissprogramm zwischen dem gemäßigten und dem radikalen Flügel, das sich jedoch in der Praxis weitestgehend der gemäßigten Richtung annäherte, war ein klar marxistisches Programm. Es anerkannte den Einzelbesitz an Produktionsmitteln als eigentliche Ursache der „steigenden Massenarmut und der wachsenden Verelendung immer breiterer Volksschichten" und stand so auf dem Boden der absoluten Verelendungstheorie.

Der Kernsatz des Programms lautete: ,,Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgaben zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der sozial­ demokratischen Arbeiterpartei in Österreich."

Hainfeld war ein Wendepunkt in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Die Einigung schuf die Voraussetzung für ein rasches Wachstum der Organisation, die innerhalb weniger Jahre zu einem entscheidenden Kraftzentrum der Monarchie wurde.

Zur Geschichte der Sozialdemokratie in:

 

Literaturtipps:

Renner Institut: Geschichten zur Geschichte

Renner Institut: 150 Jahre Arbeiterbildungsbewegung 2019

Viktor Adler - der Optimist: wienerzeitung.at

rot bewegt 125 Jahre Hainfeld

Renner Institut: Der Hainfelder Parteitag und sein Programm

bpb: Sonderfall Europa – Skizze einer kleinen Geschichte der Arbeiterbewegung

aeiou: Arbeiterbewegung