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6. Die Arbeiterbewegung in der Ersten Republik

Die junge Republik - vom "neuen Menschen" bis Schattendorf

Im November 1918 war der Erste Weltkrieg zu Ende. Einschneidendstes Ergebnis für Österreich war der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie mit ihren 52 Millionen Einwohnern. Übrig blieb ein kleiner Reststaat von 6 Millionen Einwohnern, von denen beinahe ein Drittel in der Hauptstadt Wien lebte. Nur wenige konnten sich vorstellen, dass dieser Staat ökonomisch lebensfähig sei. Aus diesem Grund war auch das Streben nach einem Anschluss an Deutschland auch innerhalb der sozialdemokratischen Partei sehr stark.

Das Kriegsende hatte keine Linderung der Not gebracht. Die Nahrungsmittelversorgung wurde sogar noch schlechter. Dazu kam für die Arbeiter die ungeheure Inflation erschwerend dazu. So dauerte es drei Jahre, ehe die Reallöhne annähernd wieder das Vorkriegsniveau erreicht hatten.

Besonders schlecht war die Versorgungslage in Wien. In der riesigen Stadt, die von der Landwirtschaft der Umgebung nicht ernährt werden konnte, herrschten Hungersnöte und es kam zu Plünderungen. Man war, um überhaupt überleben zu können, auf die Hilfe des Auslandes angewiesen.

Ein besonderes Merkmal der österreichischen Situation war die überproportionale Arbeitslosigkeit des Mittelstandes. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Monarchie (Bahn, Heer, Verwaltung etc.) waren überwiegend aus den deutschsprachigen Gebieten gekommen, und der kleine Reststaat hatte nur für einen Teil von ihnen Verwendung. Dieser deklassierte Mittelstand sollte später zu einem Reser­voir für die faschistischen Bewegungen werden.

Wirtschaftspolitisch war neben den Versorgungsschwie­rigkeiten und der Arbeitslosigkeit besonders die kritische Finanzlage des Staates ein Problem, das gelöst werden musste. Um den Staatsbankrott zu verhindern, musste die Regierung die Reserven der Postsparkasse angreifen. Eine enorme Teuerungswelle, die 1921 begann, leitete eine Inflation ein, deren Ausmaß ungeheuer war. Der Dollarwechselkurs war im September 1922 um 75.000 mal so hoch wie 1914.

Die Bekämpfung dieser Inflation wurde eine der Hauptauf­gaben der Regierung. Im Oktober 1922 wurde Bundeskanzler lgnaz Seipel für Österreich ein Kredit von 650 Millionen Goldkronen zugesagt (Völkerbundanleihe). Allerdings wurde Österreich von den Kreditgebern ökonomisch vollständig abhängig, die sogar einen Generalkommissar nach Wien entsandten, der die Verwendung des Geldes kontrollierte. Die Einsparungen im Staatshaushalt erzielte man vor allem mit einem Abbau der Arbeitskräfte, und die Arbeitslosigkeit wurde zum ungelösten Zentralproblem der Ersten Republik.

Nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen europäischen Staaten hatte das soziale Elend der letzten Kriegsjahre die Rätebewegung ins Leben gerufen. Vor allem in jenen Staaten, die zu den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges zählten, war die Rätebewegung besonders stark. Während in Österreich  die Rätebewegung durch die Politik der Regierung Renner aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen unter Kontrolle gehalten wurde, gelang es den Räten in anderen Staaten, die Macht an sich zu bringen. So entstanden im Frühjahr 1919 in Ungarn und  in Bayern Räterepubliken.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war Österreich eine demokratische Republik (Erste Republik) geworden. Zwei große politische Parteien, die Sozialdemokratie und die Christlichsoziale Partei, bestimmten das innenpolitische Geschehen. Die ersten Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16.2.1919 endeten mit einem Erfolg der Sozialdemokratie (40,75 Prozent und 72 Mandate), die mit Dr. Karl Renner den ersten Regierungschef einer Koalitionsregierung stellten. Im März 1919 zogen auch acht Frauen ins Parlament ein, sieben sozialdemokratische Abgeordnete (Anna BoschekEmmy FreundlichAdelheid PoppGabriele ProftTherese SchlesingerAmalie SeidelMaria Tusch) und eine christlichsoziale (Hildegard Burjan).

Karl Renner: Baumeister der Republik / Vater zweier Republiken

Bedingt durch das große Elend weiter Bevölkerungskreise kam dem Sozialministerium eine zentrale Bedeutung in dieser Regierung zu. Sozialminister wurde der von den Gewerkschaften nominierte Sozialdemokrat Ferdinand Ha­nusch. Es gelang ihm innerhalb weniger Monate, eine vorbildliche Sozialgesetzgebung zu schaffen, die damals unbestreitbar die fortschrittlichste Sozialgesetzgebung der Welt war. Es kam zum Beschluss folgender Gesetze:

1. Periode (November 1918 bis März 1919)

4. November 1918: Aufstellung der industriellen Bezirkskommissionen zur Orga­nisierung der Arbeitsvermittlung.

4. November 1918: Errichtung von Einigungsämtern

6. November 1918: Vollzugsanweisung über die staatliche Unterstützung der Arbeitslosen.

12. November 1918: Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe in Gewerbebetrieben

19. November 1918: Gesetz über den achtstündigen Arbeitstag in fabrikmäßig betriebenen Gewerbeunternehmungen.

20. November 1918: Ausdehnung der Arbeitslosenunterstützung auf Angestellte.

19. Dezember 1918: Regelung der Arbeits- und Lohnverhältnisse in der Heimar­beit.

25. Jänner 1919: Aufhebung der Arbeitsbücher und der Bestrafung des Kontraktbruches.

2. Periode (März 1919 bis August 1919)

14. März 1919: Gesetz über die Vorbereitung der Sozialisierung

3. April 1919: Bäckereiarbeitergesetz

25. April 1919: Invalidenentschädigungsgesetz

14. Mai 1919: Vollzugsanweisung betreffend die zwangsweise Einstellung von Arbeitern in gewerblichen Betrieben.

14. Mai 1919: Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche.

15. Mai 1919: Betriebsrätegesetz

30. Juli 1919: Arbeiterurlaubsgesetz

3. Periode (August 1919 bis Oktober 1920)

17. Dezember 1919: Gesetz über den achtstündigen Normalarbeitstag (Erweiterung auf kleingewerbliche Betriebe)

18. Dezember 1919: Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über Kollektivverträge

26. Februar 1920: Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte

24. März 1920: Gesetz über die Arbeitslosenversicherung

Was besonders auffällt, ist der Umstand, dass die entschei­denden Gesetze in der zweiten Periode erlassen wurden. Dies geschah vor allem deshalb, da in dieser Zeit die bayrische und ungarische Räterepublik existierten und auch die konservativen Kräfte in Österreich zu vielen Zugeständ­nissen bereit waren, um eine Revolution in Österreich zu verhindern. Von einschneidender politischer Bedeutung war vor allem das Betriebsrätegesetz. Mit diesem Gesetz gelang es, die Arbeiterräte unter Kontrolle zu bringen. Ihre Rechte wurden auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Belange eingeengt. Der politische Vertretungsanspruch wurde ihnen entzogen.

In der ersten Regierung der Ersten Republik waren neben Karl Renner als Staatskanzler und Ferdinand Hanusch als Staatssekretär für Soziale Verwaltung noch Otto Bauer als Staatssekretär für Äußeres (später abgelöst durch Karl Renner), Julius Deutsch als Staatssekretär für Heerwesen und Otto Glöckel als Staatssekretär für Unterricht vertreten. Beide Großparteien empfanden aber die Form einer Koalitionsregierung als Bündnis der „Klassengegner" als unnatürlichen Zustand. Bereits 1920 wurde die Koalition von Seiten der Christlichsozialen jedoch wieder aufgelöst. Den Wahlen vom Oktober 1920 folgte die Bildung einer bürgerlichen Koalitionsregierung. Die SDAP gehörte nach dem Koalitionsbruch 1920 keiner weiteren Regierung in der Ersten Republikan, konnte bei den Nationalratswahlen 1919, 1920, 1923, 1927 und 1930 im Durchschnitt aber rund 40% der WählerInnenstimmen für sich gewinnen und war bei der letzten freien Wahl vom 9. November 1930 sogar zur stimmenstärksten Partei geworden. Über das Ende der großen Koalition 1920 (Regierung Renner III) herrschte beider­seitig große Erleichterung, da man nun die gewünschte klare Frontstellung wieder erreicht hatte.

Die Sanierung der österreichischen Währung wurde rücksichtslos auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung betrieben. Neben der steigenden Zahl an Arbeitslosen wirkten sich vor allem die rigorose Einschränkung auf dem Sektor der sozialen Fürsorge nachdrücklich negativ aus. Da stets mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ohne Arbeit waren, der Staat seine Zuschüsse zur Arbeitslosenversicherung aber um über 20 Prozent senkte, trafen die Sparmaßnahmen gerade die ärmsten Bevölkerungsgruppen.

Dennoch vollzog sich ein wirtschaftlicher Aufschwung, der sich 1926 in der Aufhebung der Finanzkontrolle des Völkerbundes manifestierte und bis 1929 anhielt. So konnte 1929 das Bruttonationalprodukt pro Kopf der Bevölkerung das Vorkriegsniveau um 6,7 Prozent übertreffen. Ein ganz besonderes Wachstum vollzog sich auf dem industriellen Sektor, aber dennoch konnte bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise der Stand von 1913 nie voll erreicht werden. Trotz der relativen Hochkonjunktur erreichte die Ausnutzung der Anlagen der Schwerindustrie oft nicht einmal 50 Prozent. In diesen Jahren begann in verstärktem Maße die internationale Verflechtung der österreichischen Wirtschaft. Von besonderer Bedeutung war das internationale Stahlkartell, aber auch in anderen Bereichen erfolgte die Eingliederung Österreichs in internationale Kartelle und Syndikate. Auch die Aktienmehrheiten einiger Geldinstitute gingen damals in ausländischen Besitz über.

aus dem "Wiener Programm" (1901)

Am Parteitag des Jahres 1925 in Wien wurde von der sozialdemokratischen Partei ein Agrarprogramm beschlossen. Die österreichischen Sozialdemokraten waren somit die erste sozialdemokratische Partei, die sich ein solches Agrar­programm gab. Dieses Programm zählte zu den bedeutend­sten geistigen Schöpfungen des Austromarxismus. Vorberei­tet wurde es durch die vor dem Parteitag erschienene Studie von Otto Bauer mit dem Titel: „Der Kampf um Wald und Weide." Im Gegensatz zur alten marxistischen Auffassung, die den Untergang des Kleinbetriebes voraussagte, sprach dieses Agrarprogramm von der Notwendigkeit der Erhaltung eines freien Bauernstandes, der auch in einer sozialistischen Gesellschaft freier Besitzer seines Grund und Bodens sein würde. In diesem Programm wurde weder die Forderung nach einer künstlichen Forcierung des landwirt­schaftlichen Großbetriebes erhoben noch auch der Gedanke vertreten, den Großgrundbesitz zu zerschlagen und das Land an die Bauern aufzuteilen. Der Großgrundbesitz stelle zwar als Träger und Ausgangspunkt des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft die günstigere Betriebsform dar, allerdings könnten auch die Kleinbauern durch Verbesserung ihrer Betriebsmethoden ökonomisch lebensfähig bleiben. Mit diesem Programm unternahm die Sozialdemokratie der Ersten Republik den Versuch, über das „Rote Wien" hinaus auch in der Bevölkerung der Bundesländer Fuß fassen zu können.

Von noch größerer Bedeutung als das Agrarprogramm ist aber zweifellos das Parteiprogramm, das 1926 auf dem Parteitag in Linz beschlossen wurde und als „Linzer Programm" in die Geschichte eingegangen ist.

Da die sozialdemokratische Partei trotz mancher äußeren Veränderungen noch immer programmatisch auf dem Boden des Wiener Programms von 1901 stand, war die Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms in der Folgezeit vordringliche Aufgabe. Die Radikalisierung weiter Teile des Parteivolkes, bedingt durch das Vordringen der Reak­tion (Beseitigung des „revolutionären Schuttes" wie es Prälat lgnaz Seipel die Sozialreformen zwischen 1918 und 1920 bezeichnete) machte es notwendig, der Unzufriedenheit der Arbeiter durch eine energische und revolutionäre Sprache entgegenzukommen. Dies wurde als Mittel gesehen, diese für die Partei gefährliche Stimmung abzufangen. Als echtes Produkt des Austromarxismus war der Kern des Programms jedoch wenig revolutionär. Wesentlichste Zielsetzung war die Eroberung der Staats­macht durch die Entscheidung des allgemeinen Wahl­rechtes, also jene bekannte Bauersche Auffassung von den 51 Prozent der Stimmen, mit denen die Sozialdemokratie in Österreich den Sozialismus erringen könnte. Die Anhänger der Sozialdemokratie wurden vor allem zur Verteidigung der Demokratie aufgerufen. Der oft zitierte Kernsatz des Pro­gramms lautet: „Wenn es aber trotz all dieser Anstren­gungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könne die Arbeiterklasse die Staats­macht nur noch im Bürgerkrieg erobern." Eine derart radikale Formulierung gab es bei keiner anderen sozialde­mokratischen Partei der Welt. Erst heftige Diskussionen auf dem Parteitag hatten diese Formulierung möglich gemacht. Den Gegnern der Sozialdemokratie gab dieses Linzer Programm mit seiner revolutionären Sprache willkommene Argumente, den Austromarxismus als eine Spielart des Bolschewismus hinzustellen. Dennoch ist dieses Linzer Programm als ein Programm zur Verteidigung der Demokratie, das die Gewalt nur als allerletztes Defensivmittel bei einer Gefährdung dieser Demokratie vorsah. Dieses Linzer Programm gilt als zentrales Dokument des Austromarxismus.

„Rotes Wien"

Bei den Gemeinderatswahlen vom 4. Mai 1919 erreichten die Sozialdemokraten in Wien die absolute Mehrheit. Dieses Wahlresultat wurde 1923 noch weit übertroffen, als die Sozialdemokraten 78 der 120 Sitze im Gemeinderat erhiel­ten.

Diese deutliche Mehrheit gestattete eine Politik, die aus Wien in der Folgezeit das „rote Wien" machte. Im roten Wien wollten die Sozialdemokraten all das verwirklichen, was ihnen in der Gesamtrepublik versagt blieb. Die Stadt sollte dem übrigen Österreich die Überlegenheit sozialdemokratischer Politik vor Augen führen. Von 1923 an vollzog sich für mehr als zehn Jahre ein beispielhaftes Aufbauwerk, das Anerkennung und Anteilnahme bei den Sozialdemokraten in aller Welt fand.

Wien Museum: „Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis.“

An der Spitze der Stadtverwaltung stand der Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie Karl Seitz. Ihm zur Seite stand eine Reihe hervorragender Mitarbeiter. Robert Danneberg entwarf eine neue Wiener Gemeindeverfassung und Hugo Breitner führte ein neues kommunales Steuersystem ein, das die Grundlage für die Aufbauarbeit lieferte. Die Reichen mussten für Autos, Hunde, Rennpferde, Luxuswoh­nungen oder für Hausgehilfinnen hohe Steuern entrichten. Damit wurden u.a. die neuen Gemeindebauten errichtet, die heute noch das Bild der Randbezirke prägen. 65.000 Wohnungen mit noch nie dagewesenem Komfort wurden gebaut. Dazu kamen Schulen, Kindergärten, Parkanlagen etc.

Julius Tandler war für das Gesundheitswesen der Stadt zuständig, und er führte den schulärztlichen Dienst und die Mutterberatungsstellen ein. Otto Glöckel reformierte das Schulwesen und kämpfte erfolgreich gegen die Bildungsprivilegien der Besitzenden an. 

Wir sind das Bauvolk (Lied):

Die Errungenschaften des „Roten Wien“ beeindruckten auch international. So war Wien beispielsweise Gastgeber des „Internationalen Sozialistischen Jugendtreffens“ – der größten derartigen Veranstaltung in der Geschichte der Bewegung. Höhepunkte des Festivals vom 12. bis 14. Juli 1929 mit etwa 50.000 jungen Menschen aus 18 Nationen waren ein Sportfest auf der Hohen Warte, ein Fackelzug zum Rathaus und ein imposanter Festzug über die Ringstraße und die Hauptallee. Arbeitersport, Bildung und Kultur, als sozialistischer Gegenentwurf und zur Förderung des „neuen Menschen“, erfreuten sich immer größer werdenden Zuspruches. Als Großveranstaltung mit 25.000 SportlerInnen ging die „2. Arbeiter-Olympiade“ im Februar 1931 in Mürzzuschlag und am Semmering und vom 19. bis 26. Juli 1931 im neu errichteten Praterstadion in die Geschichte ein.

Sozialistische Milieukultur und der neue Mensch

In der Ersten Republik durchdrang die „sozialistische Milieukultur“ vor allem in den Hochburgen der Arbeiterbewegung sämtliche Lebensbereiche. Es gab Organisationen für Kinder, Jugendliche, Frauen, für Angler und Radfahrer, für Schützen und Schrebergärtner, für Sänger, Laienschauspieler und Kunstinteressierte, für Freidenker, Vegetarier, Nudisten und Briefmarkensammler – sie umspannten alle mögliche Felder, wenn auch vorwiegend Sport, Bildung und Wohlfahrt. Teils mit großem persönlichem Aufwand wurden Volksheime, Lesestuben, Büchereien, Kultursäle, Turnhallen, Sportplätze, Freibäder, Kinderheime und andere Gemeinschaftseinrichtungen geschaffen. Mit der Gegenkultur zur bürgerlich-kapitalistischen Welt, sollte sich ein neuer, ein sozialistischer Mensch entwickeln.

Zweifelsohne trugen viele dieser Organisation zur Hebung des Bildungsniveaus, zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und auch zur sozialen Stärkung der Arbeiter bei. Aber auch sozialdemokratische Arbeitersportler wollten sich messen, wollten kämpfen und gewinnen. So gab es auch in den sozialdemokratischen Jugendorganisationen immer wieder Richtungsdebatten um die puritanischen Sitten, die Alkohol und Zigaretten, paarweises tanzen und populäre Literatur als „bürgerlichen Schund“ ablehnten.

Über das dichte Netz sozialdemokratischer Vorfeldorganisationen erreichte die Sozialdemokratie auch die eher unpolitischen „breiten Massen“, verankerte sich tief in deren Privatleben und band sie damit auch als Wähler.

Der „Republikanische Schutzbund"

Am Ende des Ersten Weltkrieges bildeten sich aus Männern, die von der Front nach Hause kamen, ihre Waffen behielten und nur schwer ins Zivilleben zurückfanden, die Frontkämpfervereinigungen, die bald Instrumente in der Hand der Reaktionäre wurden und unter dem Sammelnamen „Heimwehren" bekannt wurden. Als Gegengewicht gegen diese Gruppen und gegen das seit 1920 umpolitisierte Bundesheer, wurde 1923 der Republikanische Schutzbund, die Wehrorganisation der Sozialdemokratie, gegründet. In den zehn Jahren seines legalen Bestehens fungierten Julius DeutschTheodor Körner und Alexander Eifler als zentrale Persönlichkeiten dieser Organisation.

Stabschef Alexander Eifler und Schutzbundobmann Julius Deutsch beim Republikanischen Schutzbund, Plakat (1932), Mödlinger Schutzbundfahne (1924)

Körner und Eifler vertraten allerdings gegensätzliche Mei­nungen über die Funktion und den Aufbau der Bewegung. Während Eifler eine heeresmäßige Gliederung vorsah, also eine Art „Gegenheer" anstrebte, wollte Körner die Veranke­rung des Schutzbundes in den Betrieben und Wohnvierteln, da er erkannte, dass man in einer militärischen Auseinander­setzung den Kürzeren ziehen würde. Nur eine flexible Strategie unter Einbeziehung der Bevölkerung bot für Körner eine Aussicht auf Erfolg. Schließlich setzte sich aber Eiflers Konzeption durch und der Schutzbund wurde eine straff organisierte Truppe, die als Höchststand immerhin 80.000 Mitglieder zählte.

Für eine Oppositionspartei in einem Staat, in dem außer­parlamentarische Einrichtungen kaum für einen Interessenausgleich sorgten, musste sich der politische Kampf zwangsläufig auf die Straße verlagern. Aber das Recht auf Demon­strationen nahmen sich auch die anderen politischen Grup­pierungen heraus, was manchmal zu massiven Konflikten führte, da gegen jede Demonstration eine Gegen­demonstration angesetzt wurde.

Die Tragödie von Schattendorf: Am 30. Jänner 1927 hatten im kleinen burgenländischen Ort Schattendorf sowohl die Frontkämpfer als auch der Republi­kanische Schutzbund eine Demonstration durchgeführt. Die zahlenmäßig unterlegenen Frontkämpfer zogen sich in das Gasthof Tscharmann zurück. Aus diesem Haus fielen Schüsse in die sich bereits auflösende sozialdemokratische Demonstration. Sie trafen den arbeitslosen Kriegsinvaliden Matthias Csmarits und den siebenjährigen Schüler Josef Grössing. Die Täter wurden verhaftet. Am Montag darauf streikten die Arbeiter in einer Reihe von Großbetrie­ben. Am 2. Februar 1927 fand anlässlich der Beisetzung der Opfer von Schattendorf ein 15-minütiger Generalstreik in ganz Österreich statt.

Der Justizpalastbrand: Am 14. Juli 1927 wurden die Mörder von Schattendorf freigesprochen. Das Geschworenengericht konnte sich nicht einmal zu einer Verurteilung wegen Notwehrüberschreitung durchringen. Am nächsten Morgen erschien in der Arbeiter-Zeitung unter dem Titel "Die Arbeitermörder freigesprochen" ein heftiger Leitartikel von Friedrich Austerlitz. Die Arbeiter des Wiener Elektrizitätswerkes schalteten darauf hin den Strom ab und marschierten mit den Arbeitern anderer Betriebe ins Stadtzentrum. Ein Angriff der berittenen Polizei wurde von den unbewaffneten Demonstranten abgewehrt, man sammelte sich vor dem Justizpalast, der als Sitz der Klassenjustiz angesehen, erstürmt und in Flammen gesetzt wurde. Es gelang den sozialdemokratischen Führern Julius Deutsch und Karl Seitz nicht, der Feuerwehr den Weg durch die erregte Menge zu bahnen. Daraufhin rückten 600 Polizisten mit Karabinern und scharfer Munition aus und eröffneten auf Befehl des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober das Feuer. Sie schossen in die unbewaffnete Menge. 89 Tote und weit über 100 Verletzte blieben auf dem Platz vor dem Justizpalast zurück.

Das Hauptkennzeichen der Aktion der Arbeiterschaft am 15. Juli 1927 war ihr spontaner Charakter. Die Führung der österreichischen Sozialdemokratie hatte sie weder gewollt, noch war sie in der Lage, sie unter Kontrolle zu bringen. Dieser Tag stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Ersten Republik dar. Er gab der österreichischen Reaktion die Gewissheit, dass die Führung der sozialdemokratischen Partei die große Macht und Kampfkraft der Arbeiter trotz aller programmatischen Worte nicht einsetzen würde. Der 15. Juli entmutigte andererseits viele Arbeiter und erschütterte das Vertrauen in die eigene politische Kampfkraft. Von nun an begann der offene, direkte Vormarsch der Reaktion, der zur Zerschlagung der Demokratie in Österreich führte.

Menschen und Mächte: Republik in Flammen.