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9. 1945 - Neubeginn und Wiederaufbau

Die Folgen des Krieges und der Weg zum neuen Österreich.

Der Zweite Weltkrieg hatte das weltpolitische Kräfteverhältnis ganz entscheidend verändert. Die faschistischen Staaten waren vernichtend geschlagen worden. Innerhalb der Alliierten, die für einige Zeit während des Kampfes ihre ideologi­schen Gegensätze hintangestellt hatten, bildeten sich bald wieder zwei Lager heraus. Auf der einen Seite stand die Sowjetunion, die den größten Anteil an der Niederringung des Faschismus hatte, und auch die größten Opfer brachte. Die UdSSR konnte ihre Einflusssphäre weit nach Mitteleuropa vorschieben. 

Unter den Westmächten hatte der Zweite Weltkrieg das Kräfteverhältnis noch eindeutiger zugunsten der USA ver­schoben. Frankreich und England gingen geschwächt aus diesem Krieg hervor und vor allem in der damals so genannten "Dritten Welt" wurden die Vereinigten Staaten die Erben dieser beiden Länder. Die Trennlinie zwischen den Einflussbereichen von USA und Sowjetunion lief auch quer durch Deutschland und Österreich, denn beide Länder wurden in Besatzungszonen aufgeteilt. Während es in Österreich gelang, die drohende Trennung zu verhindern und einen Staatsvertrag zu erreichen, bildete sich in Deutschland aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR heraus.

ORF | 29. März 1945: Sowjettruppen in Österreich | 2005

Zwischen den beiden Lagern führten die Gegensätze zu einer ständig steigenden Spannung. "Kalter Krieg" wurde der Ost-West-Konflikt ab 1946/47 genannt. Im Westen wurde das Schlag­wort vom „Eisernen Vorhang" geprägt, der die sogenannte „freie Welt" von den kommunistischen Staaten trennte. In allen Ländern des Westens setzte eine massive antikommu­nistische Propaganda ein. Der Osten konterte mit rigorosen Sperren der Grenzen. Das beiderseitige Wettrüsten nahm gigantische Ausmaße ein, wobei der Westen bis heute seine historisch gewachsene, technologische und wirtschaftliche Überlegenheit zu einem entsprechenden militärischen Vor­sprung nutzen konnte. Es herrschten praktisch Kriegsbedin­gungen, nicht nur im Rüsten, sondern auch im Handel, in der Propaganda und in der Spionage. Für einige Jahre prägte dieser „Kalte Krieg" die Weltpolitik. Unter diesem Aspekt sind auch der österreichische Wiederaufbau und der Kampf um die Unabhängigkeit zu betrachten.

Die Anfänge im April 1945

Sozialistische Partei Österreichs - Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten

Während die Kämpfe im Großraum Wien noch andauerten (Wiener Operation 1945) und die Rote Armee Wien gerade erst von der NS-Herrschaft befreit hatte, wurde Mitte April 1945, drei Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und der Befreiung ganz Österreichs, die Sozialistische Partei Österreich (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten) (SPÖ) gegründet. Karl Seitz, Parteivorsitzender bis zum 12. Februar 1934 und daher auch 1945 formal Vorsitzender, konnte aus dem besetzten Deutschland erst am 23. Juni 1945 nach Wien zurückkehren.

Am 12. April 1945 fand das erste Treffen führender Sozialdemokraten im schwerbeschädigten Wiener Rathaus statt. Erst viel später konnte Kontakt mit jenen Sozialdemokraten aufgenommen werden, die in den entfernteren Bundesländern die Landesorganisationen der Partei wiedererrichtet hatten. Am 14. April wurde im Roten Salon des Rathauses ein provisorischer Parteivorstand bestellt. Provisorischer Vorsitzender wurde Adolf Schärf; erst beim Parteitag am 14. und 15. Dezember 1945 wurde er zum Parteivorsitzenden gewählt; Seitz übernahm den Ehrenvorsitz der Partei. Erste Frauenvorsitzende war von 1945 bis 1959 Gabriele Proft. Als erster Vorsitzender der Sozialistischen Jugend erwarb sich – der leider sehr jung verstorbene - Peter Strasser großes Ansehen und wurde 1948 auch zum Vorsitzenden der Sozialistischen Jugendinternationale (IUSY) gewählt. Im April 1945 wurde das Zentralsekretariat der SPÖ im einstigen Gewerkschaftshaus in der Ebendorferstraße 7 provisorisch eingerichtet; seit 1. September 1945 befindet es sich in der Löwelstraße 18. Als erste Zentralsekretäre der SPÖ agierten Franz Popp (Mai 1945 - 17.11.1946), Franz Rauscher (26.10.1945 - Mitte 1946) und Erwin Scharf (Mai 1945 - 12.11.1948).

ORF | Baumeister der Republik - Adolf Schärf | 2016

Die Gründung der Zweiten Republik Österreich nahm vom befreiten Wien im April 1945 ihren Ausgang. Hier verkündete die Provisorische Staatsregierung unter Staatskanzler Karl Renner am 27. April die Unabhängigkeit Österreichs.

Bis über den Tag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht hinaus wurden Deserteure aus Wehrmacht und Volkssturm standrechtlich erschossen. Am 5. Mai wurde das Konzentrationslager Mauthausen befreit, in das noch in den letzten Wochen zehntausende Häftlinge aus anderen Lagern sowie die beim „Südostwallbau“ eingesetzten ungarischen Jüdinnen und Juden in Todesmärschen „evakuiert“ worden waren. Viele der vom NS-Regime aus politischen Gründen Verfolgten warteten zum Zeitpunkt der Parteien- und Republikgründung noch auf ihre Befreiung oder Rückkehr, sie konnten sich erst später wieder in das politische und gesellschaftliche Leben integrieren.

ORF | Kurzdoku zur Zweiten Republik | 2018

Als am 8. Mai 1945 die Wehrmacht bedingungslos kapitulierte, war Österreich weder als staatlicher Organismus noch als Wirtschaftskörper vorhanden. Die Lage des Landes war wirtschaftlich fast noch ungünstiger als nach dem Ersten Weltkrieg. Der Verwaltungsapparat war zusammengebro­chen, das Verkehrswesen funktionierte nicht, die Rohstoffreserven waren großteils vernichtet und die Industrieanlagen durch Bomben zerstört oder demoliert.

Die Zweite Republik sollte ein Neubeginn sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Armut und Hunger; ganze Städte lagen in Trümmern, das Land musste wieder aufgebaut werden und der Nationalsozialismus hatte tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Österreich traf Maßnahmen zur „Entnazifizierung“, z.B. wurden nationalsozialistische Propaganda und Handlungen verboten, NationalsozialistInnen wurden für ihre Taten während des Nationalsozialismus bestraft. Neben der strafrechtlichen Verfolgung der TäterInnen gab es aber kaum eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der Verantwortung für die NS-Verbrechen. Eine tiefere Aufarbeitung der Ursachen und Folgen der NS-Zeit blieb zunächst größtenteils aus. Auch Fragen der Entschädigung der NS-Opfer blieb viele Jahre ungelöst.

Ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung Österreichs war im Krieg gefallen, verwundet, kriegsgefangen oder im Exil. Der Mangel an Arbeitskräften und Führungskräften erschwerte die Wiederaufnahme der Produktion zusätzlich. Alle jene Betriebe, die deutsches Eigentum waren, hatten nun keine rechtmäßigen Besitzer mehr. Es waren in den meisten Betrieben die Arbeiter, die von sich aus, die Produktion wieder in Gang setzten und die Anfangsschwierigkeiten überwinden konnten. Wenn auch die gesamte Großindustrie als deutsches Eigentum von den Alliierten beschlagnahmt (und manchmal auch demontiert) wurde, so nahmen auch in diesen Betrieben, soweit es möglich war, die Arbeiter ohne Weisung ihre Arbeit wieder auf. Die Rolle der Frauen - oft Kriegswitwen, Partnerinnen von noch nicht heimgekehrten Kriegsgefangenen oder Alleinstehende - war geprägt von der „Überlebensfrage“. Der Mythos der „Trümmerfrauen“ beschreibt u.a. die Leistungen der weiblichen Bevölkerung beim Wiederaufbau, in der Arbeitswelt und in der Familienarbeit wie z.B. bei der Beschaffung von Lebensmittel.

ORF | Trümmerfrauen: Zeitzeuginnen berichten | 2015

Bereits am 1. November 1943 hielten die drei Alliierten USA, UdSSR und Großbritannien in der "Moskauer Deklaration" bezüglich Österreich fest, dass es "das erste freie Land" gewesen sei, das der "Angriffspolitik Hitlers zum Opfer" fiel, dass die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 "null und nichtig" sei und dass nach dem Krieg "ein freies, unabhängiges Österreich wiederhergestellt" werden soll. Gleichzeitig wurde Österreich in der Deklaration aber auch daran erinnert, dass es seiner Verantwortung für "die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands" nicht entrinnen könne. 

Österreich war nach sieben Jahren als eigenständiger Staat wieder entstanden. Obgleich zweifel­los die völkerrechtliche Identität mit dem Staat vor 1938 gegeben war, war diese Zweite Republik von einem unvergleichlich fortgeschrittenen Bewusstsein getragen. Dass die Besatzungstruppen der vier Siegermächte anwesend waren und das Land unter sich aufgeteilt hatten, stärkte ohne Zweifel das Zusammengehörigkeitsgefühl der Österreicher, aber es waren auch andere Kräfte wirksam. Ganz im Gegensatz zur Ersten Republik bejahten nun alle politischen Lager Demokratie, nationale Integrität und Ab­lehnung des Faschismus. Diese einigenden Kräfte führten ohne äußeren Druck zur Zusammenarbeit der beiden Großparteien, der unversöhnbaren Gegner von gestern. Aus der harten, unversöhnlichen Politik der Ersten Republik war nun eine Politik geworden, die versuchte, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Gerne wurden die Mythen „des Geistes der Lagerstraße“ und die „Opferdoktrin“ beschworen. Von der Konfliktdemokratie war man zur Konsensdemokratie vorgeschritten.

Aber nicht nur die politischen Parteien arbeiteten nun zusammen, auch in der Gewerkschaftsbewegung hatte sich eine Änderung vollzogen. Der nunmehr gegründete Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) bildete eine einheitliche, überparteiliche Interessenvertretung aller Arbeitnehmer. Überall entstanden auch sofort nach der Befreiung wieder Interessenvertretungen, die auf der Basis des Betriebsräte­gesetzes aus der Zeit von Ferdinand Hanusch agierten, bis sie 1947 ein neues Gesetz erhielten.

Sofort nach dem Sturz des nationalsozialistischen Regimes wurde mit der Wiederherstellung des früheren österreichischen Sozialrechtes begonnen. Johann Böhm, Vorsitzender des ÖGB, übernahm das Staatssekretariat für soziale Verwaltung, aber es war nicht einfach, den alten Rechtszu­stand sofort wiederherzustellen. Die Krankenkassen, Unfalls-, Alters- und Pensionsversicherungen waren ihrer Mittel beraubt, 1955 wurde schließlich das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) geschaffen, das inzwischen zahlreiche Novellen erfahren hat. Seit 1947 gibt es wieder ein Kollektivvertragsgesetz, das sowohl die Arbeits- als auch die Lohnbedingungen in der österreichischen Wirtschaft regelt. Der ÖGB schließt für etwa 95 Prozent der österreichischen Arbeiter Kollektivverträge ab.

Trotz des großen Engagements brachte der Wieder­aufbau enorme Probleme mit sich, besonders auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung. Im Frühjahr 1946 sank die Tagesration für einen österreichischen Normalverbraucher auf 700 Kalorien ab. Schritt für Schritt konnte die Ernährung bis zum November 1947 auf 1700 Kalorien angehoben werden, nicht zuletzt durch Hilfeleistungen des Auslandes.

Diese kamen allerdings erst mühsam in Gang. Im zunächst besonders gefährdeten Osten begann dies mit der "Maihilfe" der Roten Armee, die auch "Erbsenhilfe" genannt wurde: 1 kg Brot, 150 g Fleisch, 50 g Öl, 400 g Hülsenfrüchte mussten für circa eine Woche reichen. Im größeren Stil half die UNRRA, die Hilfsorganisation der UNO, die allerdings de facto erst im März 1946 anlief und in 18 Monaten rund 800 000 Tonnen Nahrungsmittel nach Österreich brachte. Daneben spielten CARE und andere US-amerikanische Aktionen eine zunehmende Rolle, aber auch andere wie aus der Schweiz, Schweden oder Kanada. Um eine Vorstellung von den Größenordnungen zu geben: Von den an die nicht selbstversorgende Bevölkerung verteilten Lebensmittel kamen 1946 rund 40 Prozent aus der österreichischen Landwirtschaft, 60 Prozent aus der UNRRA-Hilfe. Die Versorgungskrise hielt über Jahre an. Der schlimme Winter 1946/47 etwa blieb in besonderer Erinnerung. Erst 1949 konnte die Brotrationierung, im Folgejahr die Rationierung überhaupt aufgehoben werden.

Angesichts der Schwierigkeiten des Wiederaufbaues und einer Wirtschaft, die nicht vorankam, war der 1947 in den USA entwickelte Plan einer massiven Unterstützung der europäischen Wirtschaft für Österreich sehr verlockend. Allerdings war hier die Teilnahme am sogenannten Marshallplan (mehr) politisch besonders heikel: Sie war zugleich eine eindeutige Option für eine Wirtschaftspolitik im Sinne des Westens in einem Land, dessen Osten unter Kontrolle der Sowjetunion stand und in dessen Regierung bis 1947 immer noch ein Vertreter der Kommunistischen Partei saß. Diese "Westintegration" entsprach aber dem Willen der beiden großen Parteien und wohl auch einer breiten Mehrheit der Bevölkerung. In der Folge waren es besonders die unter Kontrolle der drei westlichen Besatzungsmächte stehenden Bundesländer, die profitierten (auf Wien, Niederösterreich und das Burgenland entfielen bei 46 Prozent der Arbeitnehmer nur rund 17 Prozent der Marshallplan-Hilfe).  Zwar wurde unter dem European Recovery Programm (ERP, meist "Marshallplan" genannt) auch Lebensmittelhilfe gegeben, die eigentliche Zielrichtung war aber Hilfe zur Selbsthilfe und eine kräftige Ankurbelung der Produktion. Zahlreiche Großprojekte, die oft auf früheren Planungen und Anfängen nach 1938 beruhten – z. B. Kraftwerk Kaprun – und insbesondere die Grundstoffindustrie, wurden kräftig angekurbelt.

Von ganz besonderer Bedeutung für die österreichische Nachkriegswirtschaft ist ohne Zweifel die verstaatlichte Indu­strie. Im Juli 1946 beschloss der Nationalrat einstimmig ein Gesetz über die Verstaatlichung von Großbanken und der Schlüsselindustrie, das vor allem für die Betriebe angewendet wurde, die ehemals deutsches Eigentum waren und nun unter der Kontrolle der Besatzungsmächte standen. Besonders die sowjetischen Besatzer protestierten gegen diesen Beschluss. Mit diesem Gesetz und einem weiteren Gesetz im Jahre 1947 wurden der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, die Metallindustrie und Teile der Maschinenindustrie, Elektroindustrie und chemische Industrie sowie Elektrizitäts­wirtschaft Eigentum der Republik Österreich. Mit dieser Änderung der Besitzverhältnisse war jedoch keine Änderung der Produktionsweise verbunden. Die verstaatlichte Industrie produzierte weiterhin unter den Bedingungen und im Rahmen, den ihr die Marktwirtschaft bot.

In dieser veränderten Situation musste die österreichische Arbeiterbewegung zwangsläufig ihren politischen Stil än­dern. Die Bewegung, deren Kampfwille und deren politi­sches Bewusstsein in der Zwischenkriegszeit für die Arbeiter vieler Staaten Vorbild gewesen waren, wurde nun bewusst staatstragend und politisch zurückhaltender. Für diese Änderung ist eine Reihe von Gründen als Ursachen zu nennen.

Das Erlebnis des Faschismus, der gemeinsame Kampf gegen den Nationalsozialismus, das Zusammenleben in den Konzentrationslagern und das neu entstandene Österreich­bewusstsein weckten in beiden großen politischen Lagern das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der gemeinsame Feind und die gemeinsame Aufgabe des Wiederaufbaus ließen die Klassengegensätze in den Hintergrund treten. Die großen Theoretiker (Otto BauerMax Adler), die zur Profilierung der Partei notwendig gewesen wären, waren verstorben. Die klassische Figur des „Kapitalisten" war in Österreich praktisch nicht existent, da die Schlüsselindustrie als „deutsches Eigentum" nunmehr herrenlos war.

Bedingt durch den latent vorhandenen Antikommunismus stand die Orientierung am Westen von Anfang an außer Frage. Unter diesen Bedingungen ist die Ansicht, dass „alle auf einem Ast säßen", wie der erste Präsident des Österrei­chischen Gewerkschaftsbundes, Johann Böhm, es formu­lierte, nur logische Konsequenz der äußeren Bedingungen. Man vertrat sogar die Ansicht, dass es "praktisch kein kapitalistisches System mehr" in Österreich gäbe, wie dies Alfred Miksch am Parteitag der SPÖ im Jahre 1946 formulierte. Man erlag dem Trugschluss, dass das angebliche Fehlen der „typischen Kapitalisten" als Personen dem Nichtvorhandensein des kapitalistischen Systems gleichzusetzen wäre.

Was folgte, war eine Politik der Vermeidung von Konflik­ten, eine Politik des sozialen Friedens. Das beschleunigte nicht nur den Wiederaufbau der Wirtschaft, sondern hatte daneben noch die verhängnisvolle Wirkung, bewusstseinsbildende Prozesse innerhalb der Arbeiterbewegung zu blockieren.

Die Politik der Zusammenarbeit fand schließlich in den seit 1947 geschlossenen Lohn-Preis-Abkommen ihren Höhepunkt. Diese Stillhalteabkommen legten gewerkschaftliche Initiativen auf dem Lohnsektor lahm und sind so auch in der modifizierten Weiterführung in der Paritätischen Kommission als Hauptursache für die Bewusstseinsverschüttung der Arbeiterschaft anzusehen. Für die Arbeiter war der gewerk­schaftliche Kampf, durch den sich ja erst politisches Bewusstsein entfalten kann, nunmehr sinnentleert, da die Spitzengremien der Interessenvertretungen ohne Zutun der ,,Basis" über Löhne und Preise bestimmten. Der Lohnkampf, das zentrale Element der Organisierung und Politisierung der Arbeiter in den letzten hundert Jahren, vollzog sich nun ohne den Einzelarbeiter am Verhandlungstisch.

Die letzten großen Arbeitskämpfe in Österreich waren die Oktoberstreiks von 1950. Lange Zeit war dieses Ereignis unserer Nachkriegsgeschichte sehr umstritten. Über die Bewertung erhitzen sich die Gemüter. Vor allem steht die Frage im Mittelpunkt, ob hinter der Streikbewegung ein Putschversuch der Kommunisten zu vermuten war. Aller­dings wird diese Ansicht heute von der Wissenschaft verworfen.

Im Herbst 1950 hatte der ÖGB einer Kürzung mittlerer Einkommen und der Verteuerung öffentlicher Leistungen zugestimmt. Die Unternehmen, vor allem jene in öffentlicher Hand, wollten mit dem dadurch gewonnen Geld wichtige Investitionsvorhaben finanzieren. Diese Maßnahme führte zu spontanen Protestkundgebungen in zahlreichen österreichischen Betrieben. Als am 25. September 1950 in der VÖEST ein zunächst einstündiger Warnstreik durchgeführt wurde, war dies das Signal für Kampfmaßnahmen in ganz Oberösterreich. Schon am nächsten Tag marschierten 15.000 ArbeitnehmerInnen durch die Linzer Innenstadt und am 27. September wurden sogar die Gebäude der Arbeiterkammer und des ÖGB besetzt. Bald breitete sich die Streikbewegung in ganz Österreich aus. Vor allem die im Osten Österreichs befindlichen USIA-Betriebe (Unternehmen unter sowjetischer Verwaltung) beteiligten sich, mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht, an den Streiks. Der ÖGB und alle Parteien des Landes - mit Ausnahme der KP - verurteilten die wilden Streiks.

Gerüchte über einen angeblichen „Putschversuch“ machten schnell die Runde und die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme, wie in den Jahren zuvor in Österreichs Nachbarländern Ungarn und der Tschechoslowakei, war groß. In Wiener Neustadt konnten die Streikenden zeitweise sogar die gesamte Verwaltung und Infrastruktur lahmlegen bzw. die Stadt in ihre Hand bringen. In Wien spielten sich dramatische Szenen ab, als tausende erboste ArbeitnehmerInnen das ÖGB-Gebäude in der Hohenstaufengasse stürmen wollten. Polizei und vor allem die streng antikommunistische Bau-Holzgewerkschaft, unter Leitung des späteren ÖGB-Präsidenten Franz Olah, konnten dies aber verhindern. Am 26. September fand in der Wiener Innenstadt ein von der KPÖ organisierter Protestmarsch mit anschließender Kundgebung auf dem Ballhausplatz statt. Wien stand am Rande einer blutigen Auseinandersetzung. Der Mehrheit der Streikenden wurde jedoch schnell klar, dass sie zum Spielball der Politik gemacht wurden und sie kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Regierung und Gewerkschaften war es auch gelungen, die Alliierten davon abzubringen sich in die brisante Situation einzumischen.

 

Literaturtipps:

Oliver Rathkolb: Demokratieentwicklung in Österreich seit dem 19. Jahrhundert

Brigitte Bailer: WiderstandskämpferInnen und politisch Verfolgte in der Zweiten Republik

Demokratiewebstatt: Holocaust – Shoah: Geschichte kennen - Erinnerung bewahren

KZ Gedenkstätte Mauthausen

Demokratiewebstatt: Wie umgehen mit einer schwierigen Vergangenheit?

Wien Geschichte Wiki: Trümmerfrauen

ORF History: Trümmerfrauen: Zeitzeuginnen berichten

ORF: Not und Plünderung nach dem Krieg

Österreichische Mediathek: Tondokumente aus dem Jahr 1945

ORF History: 100 Jahre Gewerkschaft – Vorwärts und nicht zurück

ORF History: Geschichte der Sozialpartnerschaft

Der Kämpfer: Erinnerungen an Peter Strasser

ÖGB: Kurzgeschichte (Video)

ÖGB: Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung bis 1945 (epaper)

ÖGB: Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung seit 1945 (epaper)

Puller/Wenninger: Die Sozialdemokratie nach 1945 (pdf)

ÖGB Skriptenreihe: Politik und Zeitgeschehen

Marcus Strohmeier (ÖGB): Aufbruch in die Zukunft

Österreichische Mediathek: Tondokumente Marshallplan und Westintegration